Der Zukunftsforscher Sven Gabor Janszky hat sich mit seinen Büchern über die Welt von morgen einen Namen gemacht. Er erforscht nicht nur die Konsumwelten der Zukunft, sondern beschäftigt sich auch mit Werten in Unternehmen und so genannten „Rulebreakern“, also Menschen, die ganze Branchen neu erfinden. Das Interview entstand als Teil einer Serie, mit der ein großes Industrieunternehmen gezielt Zukunftsthemen in der internen Change-Kommunikation zur Diskussion stellt. Von Mathias Junkert
Herr Janszky, was unterscheidet einen Trend von einem Hype?
Für einen Zukunftsforscher wie mich ist ein Trend eine technologische oder gesellschaftliche Entwicklung, die eine nachhaltige, dauerhafte Veränderung in der Lebensweise von Menschen auslöst. Also wie sie entscheiden, kommunizieren oder auch wirtschaften, zum Beispiel mit veränderten Geschäftsmodellen. Ein Hype ist dagegen eine relativ kurze Massenaufmerksamkeit für ein bestimmtes Produkt oder Phänomen. Aktuell etwa diese Fidget-Spinner, die so viele benutzen. Ein Hype kommt schnell, verschwindet schnell wieder und ist ehrlicherweise kaum vorhersagbar.
Welcher aktuelle Trend wird die Menschheit am meisten beeinflussen?
Ganz klar die Entwicklung von künstlicher Intelligenz. Also der Fortschritt, der dazu führen wird, dass Computer mittelfristig intelligenter sein werden als Menschen. Ich rede nicht von sozialer oder emotionaler, sondern von kognitiver Intelligenz. Es geht um die Fähigkeit, strategisch zu denken, Vorhersagen zu machen. Computer können voraussichtlich zwischen 2050 und 2060 besser als unser Gehirn Prognosen abgeben und werden so wahrscheinlich die Art und Weise, wie die Menschheit lebt, was für ein Selbstverständnis sie hat, am meisten verändern.
Sind das die berühmten Quantencomputer, an denen momentan viele arbeiten?
Quantencomputer sind ein Teil davon. Im Prinzip sind Quantencomputer die Hardware dafür, dass die Software so intelligent wird. Die für künstliche Intelligenz nötigen Algorithmen funktionieren nur, wenn sie auf sehr schneller Hardware laufen. Quantencomputer sind also der nächste Schritt auf Hardwareseite, damit die Schnelligkeit der Rechner noch einmal sprunghaft ansteigt und eine Voraussetzung dafür, dass die künstliche die menschliche Intelligenz wirklich übertreffen kann.
Wie sehen Unternehmen, mit denen Sie zu tun haben, diese Entwicklung, die ja auch unter dem
Schlagwort „Digitaler Wandel“ zusammengefasst wird?
Im Augenblick steht die Digitalisierung ganz oben auf der Agenda der Top-Manager. Auf den anderen Ebenen ist das meist nicht so klar. Die Frage ist überhaupt, was man unter Digitalisierung versteht. Viele verstehen unter Digitalisierung, dass alle Mitarbeiter ein Tablet bekommen, dass wir alle bestimmte digitale Geräte benutzen, irgendwelche Apps haben und unsere Produkte oder Werkzeuge mit irgendwelchen ID-Chips versehen. Für einen Zukunftsforscher ist das zwar nicht falsch, deckt aber nur etwa zehn Prozent des Themas ab. Denn Digitalisierung heißt im Kern, dass Computer in der Lage sein werden, zukünftige Zustände in einem Mikrosystem zu prognostizieren und dann Prozesse so zu steuern, dass der prognostizierte Zustand entweder erreicht wird, den man erreichen will oder, dass er verhindert wird, wenn man ihn verhindern will.
Haben Sie ein Beispiel, wie Computer „vorausschauen“ werden?
Es geht zum Beispiel um „Predictive Enterprises“ (deutsch: vorhersagendes Unternehmen), nehmen wir stationäre Händler wie Supermärkte. Deren Software analysiert künftig die Daten, also Kassendaten zum Beispiel, und sagt dann dem Händler: „Meine Prognose ist, dass du am nächsten Samstag, im Supermarkt an der Ecke Müllerstraße das Produkt A in der Anzahl B verkaufst. Die Software prognostiziert dies aus den Benutzerdaten der Vergangenheit und bezieht z. B. auch Kalender- oder Wetterdaten mit ein. Also sind vielleicht gerade Schulferien, und keiner ist zu Hause? Oder ist gerade ein Großevent in der Nähe? Jeder Supermarktbetreiber, der anfängt, mit einer solchen Software zu arbeiten, wird seine Prozesse verändern. Als erstes wird er seine Lager-, seine Logistik-, seine Beschaffungsprozesse verändern. Er wird nicht mehr so viel auf Lager haben, weil er genau weiß, wie viel er braucht. Im zweiten Schritt wird er zu seinem Lieferanten sagen: „Eigentlich möchte ich nur das bestellen, was ich morgen laut Software auch verkaufe.“ Im dritten Schritt dreht
der Supermarktbetreiber am Preisschild und lässt die Software berechnen, welcher Preis zum höchsten Verkauf führt. Vermutlich haben wir dann minütlich wechselnde Preise, wie wir das von den Tankstellen kennen. Im vierten Schritt wird der Supermarktbetreiber zum Kunden sagen: „Wenn du mir jetzt deine Körperdaten, die du vielleicht schon auf dem Smartphone hast, bereitstellst, dann verkaufe ich dir keinen Standardjoghurt, sondern reichere deinen Joghurt durch Wirkstoffe an, die dein Körper heute braucht, um nicht krank zu werden.“ Mein Handy, das mit meiner Morgentoilette
kommuniziert hat, weiß ja, dass ich heute zum Beispiel Vitamin D oder sonst irgendwelche Wirkstoffe brauche. Der 3D-Drucker fügte diese dann meinem Joghurt zu, genauso, wie ich ihn individuell und situativ genau in diesem Moment brauche.
Wie sollten sich Unternehmen auf die Digitalisierung einstellen? Viele sehen ja ihre Geschäftsmodelle unter Druck, auch die Lichtbranche zum Beispiel.
Sie müssen parallel zu ihrem auslaufenden Modell zusätzlich ein datengetriebenes Geschäftsmodell aufbauen, auch wenn sie damit das bisherige Geschäftsmodell angreifen. Die meisten Unternehmen, die ich kenne, haben aber ein Problem damit, sich selbst zu kannibalisieren, weil ihr ganzes Handeln auf das bisherige Geschäftsmodell ausgerichtet ist. Sie finden es schwer, sich in eine Situation hineinzuversetzen, in der es heißt, das, was wir bisher machen, ist nicht mehr richtig. Man muss das entwickeln, was dieses bisherige ablöst. Und das ist innerhalb des eigenen Unternehmens oft nicht
möglich, weil alle Regeln, Rituale und Symbole darauf ausgerichtet sind, das bisherige Geschäftsmodell am Laufen zu halten. Also muss ich mir geschützte Räume einrichten, etwa Inkubatoren oder Digital Labs. In diesen Räumen sollen die Mitarbeiter nach anderen Regeln, Geschwindigkeiten, individueller arbeiten dürfen.
Wo gibt es Ihrer Meinung nach den größten Nachholbedarf?
Viele Unternehmen, mit denen ich arbeite, haben ihre Hausaufgaben schon gemacht, Digitalstrategien entwickelt, Inkubatoren aufgebaut und so weiter. Dann haben sie ihren Führungskräften gesagt: Setz das doch mal mit deinen Mitarbeitern um. Und sie stellen fest, dass nichts passiert, und die Mitarbeiter nicht mitmachen.
Warum ist das so?
Unternehmen vergessen oft den Kern von Transformationsprozessen, nämlich die Denkmuster bewusst zu managen. Denn wir Menschen treffen den allergrößten Teil unserer täglichen Entscheidungen unterbewusst. Auf Basis von Denk- und Verhaltensmustern, die in unserem Hirn automatisiert sind. Wir denken nicht groß darüber nach, sondern wir machen es so, wie wir es immer gemacht haben.
Die berühmten Schubladen.
Genau. Wenn ich zu einem Menschen hingehe und sage: Du sollst dich jetzt anders verhalten. Was passiert dann? Er handelt nach dem alten automatisierten Denkmuster, weil es viel leichter geht, weil er genau weiß, was passiert und welche Resultate zu erwarten sind. Ein automatisiertes Denkmuster wird nie abgeschafft dadurch, dass ich einfach ein neues Denkmuster daneben stelle. Der einzige Weg, ein automatisiertes, altes Denkmuster abzuschaffen, ist, einem Menschen die Möglichkeit zu nehmen, dem alten Denkmuster weiter zu folgen. Dann erst wird der Mensch ein neues Denkmuster suchen und es automatisieren.
Das klingt nach Zwang.
Das ist es letztlich auch. Ein simples Beispiel aus meinem Privatleben: Ich halte relativ viele Vorträge. Das heißt, viele Nächte am Ende meines Arbeitstages verbringe ich in Hotels. Immer wenn ich kurz vor dem Schlafengehen im Hotelzimmer sitze, nehme ich mir aus der Minibar eine Cola und eine Schokolade. Das hat keinen Sinn, für meine Figur ist es schädlich, und ich will es auch nicht, aber ich mache das jeden Abend. Aber ich kann mir noch so oft vornehmen, die Minibar nicht aufzumachen, irgendwann gibt es den Zeitpunkt, da passiert es. Was ich jetzt gemacht habe: Ich gehe nur noch in Hotels, die mir bei der Buchung versprechen, dass sie die Minibar ausräumen. Das heißt, ich nehme
mir bewusst die Möglichkeit, meine Routine weiterzuführen. Und plötzlich habe ich überhaupt kein Problem damit, keine Schokolade zu essen und keine Cola zu trinken. Das meine ich mit „bewusst die eigenen Denkroutinen managen“. Also sich bewusst die Möglichkeit nehmen, der alten Denkroutine zu folgen. Das ist der springende Punkt, in jedem Bereich des Lebens, und auch bei der Umstellung auf digitales Denken oder neue Arbeitsweisen.
Was sind weitere Voraussetzungen, dass eine solche Transformation gelingen kann?
Eine der Hauptvoraussetzungen ist, dass es von ganz oben gewollt ist und vorgelebt wird. Change-Prozesse sind keine Bottom-up-Prozesse. Und man muss verstehen, was man verändern muss, zum Beispiel die Unternehmenskultur als Summe der automatisierten Denk- und Verhaltensweisen aller Mitarbeiter.
Welche Rolle können gemeinsame Werte für die Unternehmenskultur spielen?
Gemeinsame Werte sind gut und richtig. Aber wenn es um Transformationsprozesse geht, reichen sie oft nicht tief genug. Es dreht sich alles um die automatisierten Denk- und Verhaltensweisen im Kopf, über die wir nicht nachdenken und an die wir deshalb so schwer rankommen. Aber genau da muss ich eben als Unternehmen ran, wenn ich die Organisation verändern will.
Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen wir ein Telekommunikationsunternehmen mit einer großen Vertriebsabteilung. Das eigentliche strategische Ziel der Vertriebsabteilung ist, im B2B-Vertrieb mehr Cloud-Lösungen zu verkaufen. Viele Jahre mussten die Vertriebler vor allem SIM-Karten, also Neuverträge verkaufen. Jetzt sagt der Chef, dass seine Leute trotz Strategiewechsel immer noch lieber SIM-Karten und Neuverträge verkaufen als Cloud-Lösungen. Aber dann geht man in den wöchentlichen Call mit allen Vertrieblern, und die Frage, die der Vertriebschef als erstes stellt, ist: Wie viele Neuverträge habt ihr verkauft? Für das, was mir als Chef wichtig ist, gibt es kein deutlicheres Symbol als die erste Frage in so einem Call. Es ist banal, aber oft scheitern Transformationsprozesse an solchen Ritualen. Weil die Strategie zwar sagt, wir wollen nach rechts, aber im regelmäßigen Ritual verhält man sich völlig anders.
Sind das auch so die Themen, die Sie bei Ihrem Transformation-Kongress diskutieren?
Exakt. Wir haben den Kongress ins Leben gerufen, weil wir den Eindruck gewonnen haben, dass alle immer ein Thema vergessen. Nämlich dass Veränderung darin besteht, die Menschen auch erkennen zu lassen, welchen persönlichen Nutzen sie von der Veränderung haben. Dass Veränderung für sie eine persönliche Chance zur Weiterentwicklung ist und keine Gefahr.